Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs [1] konnte bis Ende 2015 den Bestimmungen des § 4 Abs. 1 und 2 AVBEltV/AVBGasV bzw. des § 5 Abs. 1 und 2 StromGVV/GasGVV ein gesetzliches Recht des Gebiets- bzw. Grundversorgers entnommen werden, gegenüber Tarifkunden bzw. grundversorgten Kunden die Preise einseitig nach billigem Ermessen zu ändern. Die Rechtsfolgen ergaben sich somit aus § 315 BGB.
Mit den zwei Urteilen vom 28.10.2015 – VIII ZR 158/11 [2] und VIII ZR 13/12 [3] – hat der BGH diese Auffassung aufgegeben und entschieden, dass den genannten Bestimmungen kein einseitiges Preisanpassungsrecht entnommen werden könne.
Die obigen Ausführungen zu § 315 BGB sind somit auf den ersten Blick auf die Grundversorgung nicht (mehr) anwendbar, da es an der Grundvoraussetzung hierfür fehlt: Ein einseitiges Preisanpassungsrecht muss entweder vereinbart sein oder es muss sich aus einem Gesetz ergeben. Beides ist in der Grundversorgung nicht (mehr) der Fall.
Der BGH hat jedoch eine kunstvolle – aber dogmatisch wackelige – Lösung gefunden, welche dazu führt, dass das Ergebnis letztlich das Gleiche ist, wie ein (gesetzliches) einseitiges Preisanpassungsrecht, dessen Rechtsfolgen sich aus § 315 BGB ergeben. Aus diesem Grunde sind die obigen Ausführungen zu § 315 BGB im Ergebnis doch anzuwenden.
Die durch den Wegfall des Preisänderungsrechts selbst aufgerissene Lücke schließt der Senat nämlich wieder im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 157, 133 BGB).
Das geschieht aber nicht etwa dadurch, dass ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht des Lieferanten im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung den Parteien wieder »hineininterpretiert« wird, was insoweit eine übersichtliche Lösung wäre, als dass dann auf der Rechtsfolgenseite doch wieder § 315 BGB gelten würde.
Vielmehr gab sich der Senat alle Mühe, das von ihm ersichtlich erkannte dogmatische Problem zu umschiffen, dass der Grundversorgungsvertrag zwischen den Parteien nicht ausgehandelt wird, weil er gesetzlich in den Verordnungen vollständig durchgeregelt und nach § 1 Abs. 1 Satz 2 AVBEltV/AVBGasV/StromGVV/GasGVV zwingend und ohne Abweichungen anzuwenden ist. Hier vom »wirklichen Willen« der Parteien zu sprechen (§ 133 BGB), der im Wege der ergänzenden Auslegung zu erforschen ist, erscheint nicht möglich. Vermutlich deshalb hat der Senat die Lücke in einer nur schwer verständlichen Weise geschlossen: In den Grundversorgungsvertrag liest er im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nicht etwa das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als solches hinein, sondern die gesamten Rechtsfolgen des § 315 BGB und zwar in der Auslegung, die er hierzu schon immer zum Energielieferungsvertrag vertreten hatte. Die Rechtsfolgen des § 315 BGB wurden samt der Auslegung des Senats sozusagen im Wege der ergänzende Vertragsauslegung in den Vertrag »eingebaut«, weshalb eine (nochmalige) Billigkeitsprüfung nicht erfolge. [4]
Auch wenn das Ergebnis für beide Parteien sachgerecht ist, so ist festzustellen, dass der Senat einen dogmatisch fragwürdigen und letztlich nicht nachvollziehbaren Weg gewählt hat.
Dies geschah auch noch völlig ohne Not, denn der EuGH hat keineswegs entschieden, dass das gesetzliche Preisanpassungsrecht des § 4 Abs. 2 AVBGasV gegen europäisches Recht verstößt, wie der BGH irrig annimmt. Dem EuGH ging es nicht um das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als solches, sondern vielmehr um die Information des Kunden über Anlass, Voraussetzungen und Umfang über die Preisanpassung. [5] Das europäische Recht flankiert lediglich das – auch dort als ganz selbstverständlich vorausgesetzte [6] – Preisanpassungsrecht durch Informationspflichten.
Bezüglich der dogmatischen schwachen Konstruktion des BGH sei hier nur die schwächste Stelle des sehr umfangreichen Urteiles herausgegegriffen: Der ergänzenden Vertragsauslegung stehe, so der BGH, nicht entgegen, dass die Vertragsparteien im Tarifkundenverhältnis wegen der durch die Rechtsnormen der AVBGasV bestimmten Vertragsbedingungen in ihrer Freiheit, Vereinbarungen zu treffen, stark eingeschränkt seien, denn das Recht zur Weitergabe von Kostensteigerungen sei dem Energiewirtschaftsrecht wie auch der AVBGasV »immanent«. [7] Weshalb der Senat trotz dieser »Immanenz« der Preisanpassungsmöglichkeit den § 4 Abs. 2 AVBGasV kassiert, um ihn dann im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung doch letztlich wieder einzuführen, erschließt sich nicht. Und schon gar nicht erschließt sich, »dass die Parteien die wirksame Ausübung dieses Rechts vernünftigerweise an keine weiteren als die in § 4 Abs. 2 AVBGasV genannten Voraussetzungen geknüpft hätten«, [8] der Senat genau diese Bestimung aber gleichwohl kassiert.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten der Kritik an dieser sehr umfangreichen Entscheidung wird auf die ebenfalls umfangreiche Urteilsanmerkung des Autors verwiesen. [9]
Weitere Entscheidungen sind zu erwarten (bzw. sind inzwischen ergangen, siehe nachstehend) , denn der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshof hat von den, soweit bekannt, insgesamt vier Verfahren aus dem Gasbereich, welche im Hinblick auf das Verfahren beim EuGH C-359/11 und C-400/11 ausgesetzt wurden, nunmehr nur die ersten beiden entschieden. Eine vom Berufungsgericht zugelassene Revision gegen ein Urteil des OLG Düsseldorf [10] und eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Urteil des OLG Koblenz [11] sind noch anhängig. Ebenfalls noch bei dem Bundesgerichtshof anhängig, ist dasjenige Verfahren, in dem der Bundesgerichtshof ursprünglich die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof beschlossen hatte [12] und über die der EuGH zwischenzeitlich entschieden hat. [13] Es geht hierbei um eine vom Berufungsgericht [14] zugelassene Revision. Schließlich ist noch ein weiteres Verfahren aus dem Elektrizitätsbereich anhängig. [15]
[Eingefügt am 28.02.2016]
Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung in folgenden Entscheidungen bestätigt:
- BGH, Urteil vom 09.12.2015 – VIII ZR 208/12.
- BGH, Urteil vom 09.12.2015 – VIII ZR 330/12.
[Eingefügt am 07.04.2016]
Der Bundesgerichtshof hat am 06.04.2016 ein weiteres Verfahren im Zusammenhang mit der Preisanpassung durch den Grundversorger entschieden (BGH, Urteil vom 06.04.2016 – VIII ZR 71/10; der Volltext wurde vom BGH am 07.04.2016 hier veröffentlicht.)
Es handelt sich dabei um dasjenige Verfahren, in dem der Bundesgerichtshof ursprünglich die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof beschlossen hatte [16] und über die der EuGH zwischenzeitlich entschieden hat. [17]
Aus der neuen Entscheidung vom 06.04.2016 ist insbesondere folgendes hervorzuheben:
- Es bestehe kein Anlass zu einer erneuten Vorlage an den EuGH (Leitsatz b und Rn. 37 ff.).
- Für Gaspreiserhöhungen, die vor dem 01.07.2004 vorgenommen worden sind, bleibe es bei der bisherigen Rechtsprechung, wonach § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV ein Recht des Gasgrundversorgers zu entnehmen ist, die Preise nach billigem Ermessen (§ 315 BGB) zu ändern. Dies gelte auch für den Fall eines durch privatrechtliche Gestaltung herbeigeführten faktischen Anschluss- und Benutzungszwangs (Leitsatz c).
- Einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle von allgemeinen Tarifen (Preisen) eines Gasversorgungsunternehmens im Sinne von § 10 EnWG 1998 und § 36 EnWG 2005 in analoger Anwendung von § 315 Abs. 3 BGB stehe entgegen, dass sie der Intention des Gesetzgebers zuwider liefe, der eine staatliche Prüfung und Genehmigung dieser Tarife wiederholt abgelehnt habe (Rn. 23).
- Trägt der Grundversorger zu seinen Bezugskostensteigerungen schlüssig vor (Rn. 29 f.), so macht bereits ein einfaches Betreiten des Kunden eine Beweisaufnahme erforderlich (Rn. 31). Diese wurde vorliegend nicht durchgeführt, was einer der Gründe für die Zurückverweisung war.
- Angesichts der sich aus § 2 Abs. 1, § 1 Abs. 1 EnWG 2005 ergebenden Verpflichtung des Energieversorgungsunternehmens zu einer möglichst sicheren, preisgünstigen, verbraucherfreundlichen, effizienten und umweltverträglichen leitungsgebundenen Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas trifft den Versorger die Verpflichtung, die eigenen Bezugskosten im Interesse der Kunden niedrig zu halten; vom Preisänderungsrecht des Gasgrundversorgers sind daher (Bezugs-)Kostensteigerungen nicht umfasst, die er auch unter Berücksichtigung des ihm zuzubilligenden unternehmerischen Entscheidungsspielraums ohne die Möglichkeit einer Preiserhöhung aus betriebswirtschaftlichen Gründen vermieden hätte (Leitsatz d). Trägt der Kunde vor, der Grundversorger habe die eigenen Bezugskosten durch die Gestaltung der Vertriebsform in die Höhe getrieben, so sei diesem Einwand nachzugehen (Rn. 32). Das Recht zur Preiserhöhung könne nicht dazu dienen, dass der Grundversorger zu beliebigen Preisen einkauft, ohne günstigere Beschaffungsalternativen zu prüfen, und im Verhältnis zu seinem Vorlieferanten Preisanpassungsklauseln und Preissteigerungen akzeptiert, die über das hinausgehen, was zur Anpassung an den Markt und die Marktentwicklung im Vorlieferantenverhältnis erforderlich ist (Rn. 33). Hier hatte der Kunde vorgetragen, der Grundversorger sei am Vorlieferanten beteiligt. Über die Vorlieferanten, die mit der Klägerin personell verflochten seien, würden die eigenen Bezugspreise künstlich in die Höhe getrieben, während die Klägerin auf der anderen Seite an den Gewinnen dieser Vorlieferanten beteiligt sei. Diesen Vortrag hätte das Berufungsgericht, so der BGH nicht als unerheblich beurteilen dürfen, sondern es hätte den angebotenen Beweis erheben müssen (Rn. 35). Dies war ein weiterer Grund für die Zurückverweisung.
Die Leitentscheidung vom 28.10.2015 [18] enthält einige weitere für Grundversorger wichtige Hinweise zu Rechtsfragen, welche immer wieder zu Streit führen:
- Es stehe dem Grundversorger frei, verschiedene Grundversorgungstarife anzubieten, und zwar auch solche, bei denen die Tarifeinstufung automatisch nach dem Prinzip der Bestpreisabrechnung erfolgt. [19]
- Die Verpflichtung des Grundversorgers, zeitgleich mit der öffentlichen Bekanntgabe der Preisänderungen diese auch auf seiner Internetseite zu veröffentlichen und eine briefliche Mitteilung an den Kunden zu versenden, diene nur dem Zwecke einer erleichterten Kenntnisnahme durch den Kunden, sie ist nicht hingegen nicht ein weiteres Wirksamkeitserfordernis. [20]
- Das Ziel der Preisgünstigkeit in § 1 EnWG 2005 sei nicht nur auf die möglichst billige Energieversorgung der Endkunden ausgerichtet. Zu berücksichtigen sei zugleich die insbesondere durch die Kostenstruktur geprägte individuelle Leistungsfähigkeit der Versorgungsunternehmen sowie die Notwendigkeit, die Investitionskraft und die Investitionsbereitschaft zu erhalten und angemessene Erträge zu erwirtschaften. [21] In der weiteren Begründung bringt der Senat dann allerdings die Funktionen von Netzbetreiber und Grundversorger durcheinander.
- Der Sonderkunde könne die Unwirksamkeit derjenigen Preiserhöhungen, die zu einem den vereinbarten Anfangspreis übersteigenden Preis führen, nicht geltend machen, wenn er sie nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresabrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat. [22] Dies gelte auch für die Grundversorgung. [23]
- Vernimmt das Instanzgericht zur Frage, ob Preiserhöhungen auf (Bezugs-)Kostensteigerungen beruhen und ihnen keine Einsparungen in anderen Kostenpositionen gegenüberstehen zwei mit der Prüfung der Fragen befasste (externe) Wirtschaftsprüfer sowie um den Verkaufsleiter des Grundversorgers [24] als Zeugen, [25] so sei dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. [26] Ein vom Grundversorger Klägerin zusätzlich angebotener Sachverständigenbeweis müsse nicht eingeholt werden, wenn das Instanzgericht seine Überzeugung bereits auf der Grundlage der Zeugenaussagen gewinnen konnte. Die Einholung eines gegenbeweislich vom Kunden beantragten Sachverständigengutachtens sei nicht erforderlich, wenn der Kunde die sich aus der Zeugeneinvernahme ergebenden Anknüpfungstatsachen nicht qualifiziert angegriffen hat. [27]
- Bei einem Massengeschäft wie dem Tarifkundenvertrag sei keine tagesgenaue Weitergabe von Kostensenkungen und Kostenerhöhungen erforderlich. Vielmehr sei auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen. [28] Die Annahme des Berufungsgerichts, für die Beurteilung der Preiserhöhungen sei auf das Gaswirtschaftsjahr abzustellen, sei im Ergebnis rechtsfehlerfrei. [29] Der Grundversorger habe bei der Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen einen Ermessensspielraum. [30]
[Eingefügt am 06.05.2016]
Am 25.04.2016 wurden auf der Internetseite des Bundesgerichtshofs zwei weitere Urteile im Zusammenhang mit der Preisanpassung in der Grundversorgung veröffentlicht:
- BGH, Urteil vom 06.04.2016 - VIII ZR 236/10, vorgehend OLG Koblenz, Urteil vom 26.08.2010 - U 204/10 Kart = DokNr. 13001982 (ansonsten unveröffentlicht) und
- BGH, Urteil vom 06.04.2016 - VIII ZR 324/12.