Das europäische Recht gliedert sich in das sog. Primärrecht, das sind die von den Mitgliedsstaaten ausgehandelten Verträge [2] und das sog. Sekundärrecht, welches in den von den Verträgen vorgesehenen komplizierten Prozessen [3] geschaffen wird.
Alle Rechtstexte werden in den (jetzt 24) Amtssprachen der Europäischen Union abgefasst und in jeder Sprachversion gleichermaßen rechtsverbindlich. Die Rechtstexte werden von Juristen aus ganz unterschiedlichen Rechtskulturen geschrieben. Das Europäische Recht ist nicht deshalb selbst für ausgebildete Juristen oftmals nur schwer zu lesen. Hinzu kommen Fehler und Ungeschicklichkeiten bei der Umsetzung in nationales Recht. Geradezu klassisch ist die Ungeschicklichkeit, das Wort »Rücktritt« einfach aus einer Richtlinie zu übernehmen, obwohl in der deutschen Rechtstradition an dieser Stelle »Kündigung« stehen müsste. Nach der deutschen Rechtstradition beseitigt ein »Rücktritt« einen Vertag mit Wirkung ex tunc (von Anfang an), eine Kündigung ex nunc (ab Zugang bzw. Wirksamwerden des Ausspruchs der Kündigung).
Das Europäische Sekundärrecht gliedert sich in EU-Richtlinien und EU-Verordnungen. Letztere sind nicht mit »Rechtsverordnungen« nach deutschem Recht zu verwechseln.
EU-Verordnungen gelten unmittelbar, Richtlinien richten sich hingegen an die Mitgliedsstaaten und müssen von diesen (innerhalb einer in der Richtlinie genannten Frist) in nationales Recht umgesetzt werden.
Hier stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die Nichtumsetzung (bzw. die teilweise Nichtumsetzung, was immer wieder vorkommt) von unionsrechtlichen Vorschriften, z.B. von Informationspflichten im Energierecht, im Verhältnis Privater untereinander hat. Das OLG Düsseldorf [4] ist der Auffassung, eine richtlinienkonforme Auslegung könne auch darin bestehen, den nicht umgesetzten Teil dem nationalen Recht einfach hinzuzufügen, was zulässig sei, solange dies »nicht gegen den Wortlaut der nationalen Norm verstößt«.
Dem hat der Autor mit ausführlicher Begründung in einer Anmerkung zu dieser Entscheidung widersprochen. [5] Eine Richtlinie und damit auch eine nicht umgesetzte Bestimmung einer Richtlinie entfaltet bereits nach dem eindeutigen Wortlaut des Primärrechts [6] nur Verbindlichkeit gegenüber Mitgliedsstaaten, nicht aber gegen Private. Diese Auslegung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften: danach gibt es keine unmittelbare (horizontale) Wirkung zwischen den Rechtsunterworfenen. [7] Der durch ein Nichtumsetzung ggf. geschädigte Verbraucher wird vom EuGH auf Staatshaftungsansprüche verwiesen: »Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat seiner Verpflichtung nach Artikel 189 Absatz 3 des Vertrages zur Umsetzung einer Richtlinie nicht nachkommt …, ist dieser Mitgliedstaat nach dem Gemeinschaftsrecht zum Ersatz der den Bürgern durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie verursachten Schäden verpflichtet, …« [8] Selbst wenn also die beispielsweise die unionsrechtlichen, dem deutschen Recht aber nicht entnehmbaren Informationspflichten des Grundversorgers verletzt worden sein sollten, so hat dies keine negativen Konsequenzen für den Grundversorger. Der Kunde ist ggf. darauf verwiesen, seinen Schaden – so die für den Staatshaftungsanspruch zuständigen Gerichte einen solchen überhaupt erkennen können – bei der Bundesrepublik Deutschland zu liquidieren.
[Eingefügt am 21.03.2016] Die Auffassung des Autors, eine richtlinienkonforme Auslegung könne nicht darin bestehen, den nicht umgesetzten Teil dem nationalen Recht einfach hinzuzufügen, wurde zwischenzeitlich vom Bundesgerichtshof bestätigt. [9] Danach finde die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und dürfe nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen. Art. 20 Abs. 2 GG, der dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck verleihe, verwehre es den Gerichten, Befugnisse zu beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen habe, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und sich damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen. Der Rechtsfortbildung sei deshalb mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 3 GG) Grenzen gesetzt. Dementsprechend habe auch der Bundesgerichtshof bereits entschieden, dass eine richtlinienkonforme Auslegung – ebenso wie die verfassungskonforme Auslegung – voraussetzt, dass durch eine solche Auslegung der erkennbare Wille des Gesetz- oder Verordnungsgebers nicht verändert werde, sondern die Auslegung seinem Willen (noch) entspreche.
[Eingefügt am 30.05.2016] Der EuGH sieht das aber offenbar – entgegen seiner oben dargelegten frühern Rechtsprechung – mittlerweile anders. Nach einem Urteil vom 19.04.2016 [10] ist das Unionsrecht dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das mit einem in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes fallenden Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasst ist, die von ihm anzuwendenden Vorschriften seines nationalen Rechts so auslegen muss, dass sie im Einklang mit dieser Richtlinie angewandt werden können, oder, falls eine solche richtlinienkonforme Auslegung unmöglich ist, erforderlichenfalls alle Vorschriften des nationalen Rechts, die gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen, unangewendet lassen muss. Weder die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes noch die Möglichkeit für den Einzelnen, der glaubt, durch die Anwendung einer gegen das Unionsrecht verstoßenden nationalen Vorschrift geschädigt worden zu sein, den betreffenden Mitgliedstaat wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht haftbar zu machen, könne diese Verpflichtung in Frage stellen.
In der Entscheidung geht es zwar »nur« um Alterdiskriminierung, den Gedanken kann man aber beliebig übertragen.
Nach der älteren EuGH-Rechtsprechung gibt es, wie oben dargelegt, keine unmittelbare (horizontale) Wirkung von Richtlinien zwischen den Rechtsunterworfenen. Die Auffassung, eine richtlinienkonforme Auslegung könne nicht darin bestehen, den nicht umgesetzten Teil dem nationalen Recht hinzuzufügen, wurde vom Bundesgerichtshof, wie in der Ergänzung vom 21.03.2016 dargelegt, unter Hinweis auf Art. 20 Abs. 2 GG bestätigt.
Rechtsnormen »unangewendet lassen«, wie der EuGH dies nunmehr fordert, ist jedoch ein noch klarerer Gesetzesverstoß gegenüber einem »Hinzufügen«, welches im Wege der Auslegung u.U. noch vertretbar sein kann. »Unangewendet lassen« ist jedoch eine eindeutige Gehorsverweigerung gegenüber dem Gesetz. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht und ob sich irgendwann einmal ein Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (oder das Bundesverfassungsgericht) sich getraut, dem EuGH – und nicht dem nationalen Gesetz – den Gehorsam zu verweigern.
Der Vollzug des europäischen Rechts ist in der Regel Sache der Mitgliedstaaten, in Deutschland somit in der Regel Sache der Länder.